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Jedes soziale Gefüge, jede einzelne Beziehung beruht auf bestimmten Voraussetzungen. Seit einigen Jahrzehnten gibt es in verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Psychologie, Soziologie, Biologie) Denkansätze dazu, wie man mehr über die Zusammenhänge der zugrundeliegenden Systeme erfahren kann. Diese Erkenntnisse aus der sogenannten Systemtheorie können das Denken und Handeln jedes Einzelnen beeinflussen und sogar im Coaching angewendet werden. Doch auf welchen Grundlagen basiert diese lösungsorientierte Wissenschaft? Wie hat sie sich geschichtlich entwickelt? Und wie kann sie heute von Nutzen sein? Im Folgenden werden die Grundlagen der Systemtheorie einfach erklärt:
Inhaltsverzeichnis
Als Systemtheorie bezeichnet man die interdisziplinäre Wissenschaft, welche versucht die Prinzipien und Grundlagen unterschiedlicher Systeme (soziale, biologische, mechanische) zu formulieren. Ihr Anwendungsbereich liegt heute in zahlreichen komplexen Gegenstandsbereichen wie z.B. bei dem Versuch der Ordnung von Computernetzwerken, Familien, Maschinen, Organisationen oder biologischen Zellen. Die Systemtheorie ist bestrebt, gleiche Strukturen in diesen Gebilden aufzudecken. Die dazu nötigen Konzepte des Erkennens und Problemlösens fasst man oft unter dem Begriff des Symtemdenkens zusammen. Ziel der allgemeinen Systemtheorie ist es, exaktere Vorhersagen über das Systemverhalten zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang hilft sie auch psychologische Erkenntnisse zu gewinnen und gehört dem Feld der Soziologie an:
Um möglichst alle Formen von Sozialität zu beschreiben, wurden in der soziologischen Systemtheorie über Jahrzehnte umfassende Theorien entwickelt. So kann jedes denkbare Beziehungsgeflecht (z.B. Paarbeziehung, Eltern-Kind-Beziehung, Großfamilie, Arbeitgeber/Arbeitnehmer-Beziehungen, aber auch ganze Organisationen wie z.B. die Sozialität innerhalb einer Firma) analysiert werden. Die wichtigsten Vertreter der soziologischen Systemtheorie sind Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Für diese Wissenschaft gilt genauso wie für die allgemeine Systemtheorie, dass es sich hierbei sowohl um eine eigenständige Disziplin wie auch um einen heterogenen Diskurs handelt. Deshalb finden sich manchmal widersprüchliche Systembegriffe oder Definitionen, die ebenfalls Teil des Theorems sind. Allerdings haben sich im Laufe der Geschichte der Systemtheorie auch einige feste Theorien herausgebildet, die stets neu diskutiert und weiterentwickelt werden:
Die allgemeine Systemtheorie beruht heute auf unterschiedlichen Ansätzen, die zunächst unabhängig voneinander entstanden. Als Grundlagen gelten die Überlegungen des Biologen Ludwig von Bertalanffy ebenso wie der von Norbert Wiener und W. Ross Ashby entwickelte Begriff der Kybernetik. Weiterentwickelt wurden diese vor allem durch den Strukturfunktionalismus und später durch die handlungstheoretische Systemtheorie nach Parsons und die Einführung der “Organisation“ durch Luhmann:
1948 prägte Norbert Wiener die Bezeichnung „Kybernetik“ für die Theorie, deren Fokus auf der Regelung und Steuerung von Kommunikation beruht. Bei der Entwicklung seiner Thesen griff Wiener auf die mathematischen Begrifflichkeiten aus dem Bereich der Technik zurück und übertrug diese auf kommunikative Prozesse. Die Kybernetik ist als wissenschaftliche Disziplin von geregelten Mechanismen abhängig. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom mathematischen Begriff der Modellierung, also der Beschreibung eines Systems durch ein Modell. Hierfür dienen in der Mathematik Differentialsysteme, in der Ontologie (einer Disziplin der theoretischen Philosophie) beschreibt man Systeme mit begrifflichen Mitteln. Dies versucht auch die Kybernetik. Sie vergleicht in der Kommunikation dabei stets Ist- mit Sollwerten und trifft daraufhin Aussagen, über deren Zustand. Es handelt sich also bei dieser Disziplin um eine „Kunst des Steuerns“. Weniger bekannt als Bertalanffy war sein Kollege W. Ross Ashby, der das Ashbysche Gesetz formulierte: Demnach kann ein System durch Steuerung die Varietät seiner Umwelt umso besser vermindern, je größer seine eigene Varietät ist. Neben dieser Erkenntnis der Handlungsvarietät geht auch der Begriff der Selbstorganisation in der Systemtheorie auf Ashby zurück. Damit bezeichnet man sich selbst organisierende Systeme, welche die gestaltenden, formgebenden und beschränkenden Einflüsse aus sich selbst entwickeln. Später wurde diese Theorie von Stuart Kauffman weiterentwickelt.
Ebenfalls mit dem Beginn der 50er Jahre tauchte zum ersten Mal der Begriff der Systemtheorie bzw. Systemlehre auf. Ludwig von Bertalanffy hielt das System der Kybernetik zur Beschreibung von Leben für unzureichend. Er entwickelte daher den Begriff der organisierten Komplexität, welche auf offenen Systemen beruht. Der Austausch des Systems mit seiner Umwelt wurde erstmals als fester Bestandteil der Theorie etabliert. Bertalanffy verwehrte sich dagegen, dass seine Theorie mit der der Kybernetik vermischt wurde, da er diese für zu geschlossen hielt. Zu einer allgemeinen Anwendung des Systembegriffes trug im Verlauf der Jahre die Klärung des Informationsbegriffs bei, der neben das eigentliche Signal auch die Bedeutung von Absender, Empfänger und Medium in den Mittelpunkt rückte.
Als Autopoiesis bezeichnet man die Selbsterschaffung oder –erhaltung eines Systems. Die Theorie basierte auf Bertalanffys Systemlehre und verband diese mit den Gedanken der Kybernetik: Die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela sprechen von lebenden (autopoietischen) Maschinen, die operationell geschlossen agieren. Der Prozess der Erschaffung rückte in den Mittelpunkt der Beobachtung, da ein biologisches System nicht länger über einzelne Merkmale, sondern vielmehr über den Prozess seiner Erhaltung charakterisiert wurde. Die beiden Wissenschaftler schufen damit eine Definition von Leben, die auch für die Soziologie weitreichende Bedeutung haben sollte.
Der Strukturfunktionalismus entstand ebenfalls Anfang der 50er Jahre und untersuchte die Frage, wie Strukturen das Verhalten von Individuen in einer Gesellschaft bestimmen. Alfred R. Radcliffe-Brown, Bronislaw Malinowski und Edward E. Evans-Pritchard gehören zu den wichtigsten Vertretern dieser Theorie. Sie untersuchten die Funktionen von gesellschaftlichen Strukturen und entwickelten die Idee, dass diese äußerst stabil sind und nur durch externe Faktoren gewandelt werden können. Alle sozialen Beziehungen und Interaktionen eines sozialen Netzwerks beruhen laut Radcliffe-Brown auf bestimmten Bestandsvoraussetzungen. Untersucht wurden die sozialen Strukturen anhand von begrenzbaren Forschungsgegenständen, z.B. bestimmten Stämmen. Einer der bekanntesten Vertreter der Systemtheorie, Talcott Parsons, wird oft als Teil des Strukturfunktionalismus verstanden, er selbst wehrte sich allerdings gegen eine derartige Zuordnung:
Der Einspruch Talcott Parsons gegen eine Zuordnung zum Strukturfunktionalismus ist verständlich, wenn man die Entstehung seiner Theorie nachvollzieht. Parsons gilt als wichtigster Urheber des soziologischen Systembegriffs. Seine Systemtheorie ist bemüht, die Gemeinschaft als Zusammenhang (=System) zu verstehen, in welchem das zwischenmenschliche Verhalten jedes Einzelnen die Struktur bildet. Die gegenseitige Abhängigkeit dieser Strukturen wird vorausgesetzt. Diese bezeichnet Parsons als Interdependenz. Entscheidend für den soziologischen Systembegriff ist demnach auch, wie die Individuen eines Systems ihre Handlungen aufeinander beziehen. Das geschieht laut Parsons auf Grundlage von bestimmten Verhaltenserwartungen, aus denen sich auch vorbestimmte „Rollen“ für jeden einzelnen ergeben. Eine Gemeinschaft wird also auch mit der Setzung bestimmter Verhaltensregeln (z.B. Gesetze) gebildet. Das wichtigste Element in Parsons sozialer Systemtheorie sind aber die Handlungen der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft. Wie im reinen Strukturfunktionalismus erhalten damit die beiden wortbildenden Elemente besondere Wichtigkeit:
Der Unterschied zu anderen Wissenschaftlern, die sich mit dem Strukturfunktionalismus beschäftigten, ist diese Theorie bei Parsons allerdings nur die Grundlage, auf der Handlungsprozesse ablaufen. Um ein System zu stabilisieren, kann man nach seiner Vorstellung auf Basis der Struktur eines Systems mit funktionalen Analysen herausfinden, welche Handlungen angebracht sind. Um die Möglichkeiten der Systemtheorie zu veranschaulichen, entwickelte Parsons das AGIL-Schema. Darin werden vier elementare Funktionen genannt, die zur Strukturerhaltung eines Systems notwendig sind:
Die Handlungen des Einzelnen werden stets im Rahmen des Systemzusammenhangs analysiert. Die Handlungstheoretische Systemtheorie besagt demzufolge, dass diese Handlungen zugleich das Ergebnis als auch der Ursprung des Systems selbst sind. Ein Strukturfunktionalismus ohne rückwirkende Handlungen ist für Parsons nicht vorstellbar. Das System wird nie isoliert betrachtet, sondern erklärt sich vielmehr erst durch seine Auswirkungen.
Niklas Luhmann ist einer der bedeutendsten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts. Er erweiterte die Theorie Parsons und ersetzte den Handlungsbegriff durch den Begriff der “Operation“. Laut Luhmann sind solche Operationen, die aneinander anschließen, die Grundlage jedes Systems. Unter Operation versteht er jede Form der Kommunikation, allerdings kein Handeln. Das System ist ein sich selbst beobachtendes: jede Kommunikation geht auf eine vorherige zurück und führt diese unter Umständen weiter, verweist aber immer auch auf sich selbst. Sie basiert auf Sprache und sogenannten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (das sind Macht, Wahrheit, Geld und Liebe). Es findet also nach Luhmann ständig und überall Kommunikation statt und Operationen verlaufen gleichzeitig zu denen anderer Systeme (z.B. reiner Bewusstseinsvorgänge). Der einzelne Mensch und sein Handeln rückt in den Hintergrund und das Gesamtsystem, welches Personen als durch Kommunikation konstruierte Einheiten („Identifikationspunkte“) definiert, rückt in den Fokus. Folgende soziale Systeme gibt es laut Luhmann:
Unter das jeweilige Gesamtsystem fallen einzelne Funktionssysteme, z.B. in der Gesellschaft die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Religion und das Recht. Laut Luhmann entscheiden diese Systeme dann über grundlegende Kategorisierungen wie Recht und Unrecht oder wahr und falsch. Die Handlungen der Menschen fallen dagegen nicht ins Gewicht. Die spezifischen Unterscheidungen (=Codes), z.B. Regierung und Opposition in der Politik, bilden den Rahmen des Systems und sorgen für das geschlossene System. Im Gegensatz dazu gibt es laut Luhmann Programme, welche die Offenheit des Systems bedingen. Das können beispielsweise im politischen Umfeld verschiedene kontroverse Standpunkte in Bezug auf einen Kriegseinsatz sein. Je nachdem, zu welcher Seite ein Politiker tendiert, wird seine Operation vom System der Regierung oder Opposition zugeordnet.
Die Systemtheorie hilft dabei, soziale Zusammenhänge zu verstehen und Lösungsansätze zu finden. Insofern kann sie als wissenschaftliche Disziplin auch praktisch angewendet werden, man spricht dann vom systemischen Coaching. Bei dieser Beratungsform wird versucht, Denk- und Handlungsweisen in einem Unternehmen systematisch zu erfassen. Das kann insbesondere im Zusammenhang mit einer Unternehmungsgründung- oder Neustrukturierung sinnvoll sein, aber auch bei eventuell auftretenden persönlichen Schwierigkeiten. Der Coach versucht mit zirkulären Fragen die Sichtweisen des Coachees auf ein Problem oder Verhalten zu ändern. Der Blick richtet sich im beruflichen Umfeld des Klienten auf verschiedene Bereiche wie Funktion, Rolle, Organisation und individuelle Persönlichkeit. Die Auseinandersetzung mit Fragen aus dem beruflichen Kontext zeigt Strukturen auf und kann damit eigene Ansichten in Bezug auf ein Unternehmen, mögliche Aufstiegschancen oder Konflikte mit Kollegen ändern. Aber auch individuelle Zielsetzungen können reflektiert und innerhalb des Systems analysiert werden. Der Fokus des systemischen Coachings liegt dabei auf dem bewussten Ausbau und Einsatz von Stärken und der Erkenntnis von Fähigkeiten. Somit zielt das Coaching langfristig auf eine Leistungssteigerung durch bessere Selbstorganisation, kann aber gleichzeitig auch als Vorbeugung gegen ein drohendes Burn-Outs angesehen werden. Im sozialen Miteinander eines Unternehmens kann es zum Abbau von Spannungen genutzt werden, da Konflikte aufgezeigt und gelöst werden können.
Wie bereits Luhmann aufgezeigt hat, sind die persönlichen Zielsetzungen des einzelnen Arbeitgebers oft nicht ohne den Zusammenhang des organisatorischen Umfelds zu verstehen. Deshalb arbeitet das systemische Coaching nicht nur am Individuum, sondern betrachtet den beruflichen Gesamtkontext eines Coachees. Erst aus der Unternehmensstruktur und der Analyse der persönlichen Eigenschaften des Einzelnen lassen sich Rückschlüsse auf mögliche Handlungen ziehen, welche zum Erreichen eines Ziels führen können. Wenn ein Klient sich bestimmte Veränderungen wünscht, so können diese mit systemischen Coaching über einen längeren Zeitabschnitt erreicht werden. Meist lässt sich das positive Ergebnis einer solchen Beratung daran ablesen, dass der Coachee selbst eine höhere Zufriedenheit im Unternehmen, aber auch mit sich selbst erfährt.
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