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Der gesellschaftliche Trend in Bezug auf Beziehungen geht immer mehr in die Richtung einer relativ späten partnerschaftlichen Verpflichtung und einer Prioritätensetzung zugunsten einer Verwirklichung der eigenen Lebensvorstellungen. Mittlerweile wird oft erst jenseits der 30 Jahre an Heirat oder gar Nachwuchs gedacht. Vor allem in den westlichen Ländern mit meist überdurchschnittlich hohem Entwicklungsgrad lässt sich in einigen demografisch orientierten Statistiken ablesen, dass zwar der Grad der sogenannten persönlichen Entwicklung ein immer höheres Niveau erreicht, aber Phänomene wie die Anzahl der alleinstehenden Haushalte oder eine steigende Kinderlosigkeit anscheinend mit dieser Entwicklung in wechselseitiger Korrelation zu stehen scheinen. Ein auf permanente Leistung beruhendes und mit großer Unsicherheit ausgestattetes gesellschaftliches Gefüge impliziert auch eine bedingte Isolation der einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft. In der modernen Welt der Digitalisierung entsteht zudem das Problem totaler und fortwährender Vergleichbarkeit. Dazu kommt eine scheinbar unendliche Palette an Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen hinzu, meist einhergehend mit einem Anspruch auf Perfektion und der Angst, möglicherweise eine falsche Wahl treffen zu können. Parallel zu den überfordernden Möglichkeiten der Wahl und der Visualisierung von scheinbar besseren „Alternativen“ ist den Menschen natürlich auch ihre eigene Vergleichbarkeit bewusst und je nach Nutzungsverhalten der digitalen Möglichkeiten ist diese gegebenenfalls stetig präsent. Dies wiederum wirkt sich nachweisbar schädlich auf den Selbstwert der Menschen aus. Die Konsequenz ist ein bedenklicher gesellschaftlicher Trend, der unter Umständen psychologische Probleme beim Einzelnen fördern, beziehungsweise eine bereits bestehende Problematik im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen negativ begünstigen kann.
Im psychopathologischen Bereich werden Probleme in Beziehungen unter gewissen Parametern mit dem Begriff Bindungsangst oder auch Bindungsstörung bezeichnet. Bindungsangst kann als Angst vor Bindungen beziehungsweise festen Verpflichtungen in Bezug auf das Thema Partnerschaft definiert werden. Ist diese Bindungsangst besonders stark ausgeprägt und erscheint die Option einer Beziehung zunehmend als unmöglich, spricht man von einer sogenannten Bindungsphobie. Bindungsstörungen betreffen in erster Linie Liebesbeziehungen, die Problematik kann aber durchaus auch platonische oder familiäre Beziehungen tangieren. Menschen mit Bindungsangst haben große Schwierigkeiten eine Beziehung zuzulassen sowie diese schmerzfrei zu „(er)leben“.
Die Ursachen für Bindungsprobleme in der Partnerschaft gehen meist auf die frühe Kindheit oder traumatische Erfahrungen in der Jugend zurück. Auch Verlusterfahrungen können zu einer Bindungsstörung führen. Die frühkindliche Beziehung zwischen Mutter und Kind gilt als wesentlich für das Herausbilden von späteren, gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine problematische Beziehung zwischen Mutter und Kind ist jedoch oft der ursprüngliche Grund für eine spätere Angst vor Bindungen beziehungsweise Probleme beim Versuch eine Beziehung zu führen. Die ersten Beziehungen eines Menschen sind fundamental wichtig für die Bildung von sogenannten neuronalen Verbindungen im Gehirn. Da Babys und Kleinkinder total von ihrer ersten Bezugsperson abhängig sind, müssen sie unbedingt ein solches Netzwerk aufbauen, um überleben zu können. Das Gehirn wertet nicht zwischen günstigen und ungünstigen Verhaltensweisen. Allein die Wiederholung schafft die Verbindung. Negative Erfahrungen haben zudem die problematische Eigenschaft, schneller im Gedächtnis verankert zu werden als gute. In der frühen Kindheit werden also die fundamentalen Schlüssel für Beziehungen gelegt, die später schwer veränderbar sind, weil sie sich als teilweise unbewusste Muster implementieren. Es entsteht nicht selten bei den Betroffenen der subjektive Eindruck, ihnen würde immer das gleiche Problem „widerfahren“. Unterschiedliche ungünstige Verhaltensweisen der Bezugspersonen in der frühen Kindheit können zu der Entwicklung einer Bindungsangst führen. Vernachlässigung und Überbehütung sind gleichsam problematisch für die Entwicklung von gesunden Beziehungsmustern. Empfindet ein Baby oder Kleinkind in Bezug auf seine erste und wichtigste Bezugsperson Unsicherheit (das Verhalten der Mutter ist unstetig), Schmerz (das Kind wird abgelehnt) oder zu starke Kontrolle (das Kind hat keinen Raum sich selbst zu entwickeln und Autonomie zu erlernen), dann kann das eine falsche „Verdrahtung“ im emotionalen Erinnern des Betroffenen bedeuten. Diese wird dann wie ein Programm falsch eingeschrieben und bei eintretenden, ähnlichen Impulsen immer wieder abgespielt und dadurch wiederholt sich dieser ursprünglich in der Kindheit wahrgenommene Schmerz in den späteren Beziehungen und kann sich darüber hinaus sogar verfestigen. Kleine Kinder können gar nicht anders, als alles auf sich zu beziehen. Deshalb wird das Verhalten der Bezugsperson in ihr Verständnis von sich selbst integriert. Bei Ablehnung durch die Mutter etwa kann das Kind nicht anzweifeln, ob das Verhalten ihm gegenüber richtig ist, sondern nimmt an, die Ablehnung verdient zu haben. Diese Annahme integriert das Kind in seine Interpretation der Realität mit ein. Neben frühkindlichen Mustern können auch traumatische Erfahrungen in vorangegangenen Partnerschaften oder anderen sozialen Kontexten negative Auswirkungen auf den Menschen haben. Dieser kann im Verlauf eine Bindungsstörung entwickeln. Verlusterfahrungen führen beispielsweise nicht selten zu Verlustangst. Diese Verlustangst bedingt wiederum eine Bindungsstörung.
Eine weitreichende Palette von Symptomen kann auf die Ursache Bindungsangst hindeuten. Mögliche Indikatoren für vorhandene Bindungsangst in Bezug auf die inneren Vorgänge in einem Menschen können Folgende sein:
Meist haben Betroffene dann den Eindruck, dass der Partner oder die Partnerin an der „freiheitsberaubenden“ Situation „schuld“ sei beziehungsweise diese überhaupt erst verursacht. Weitere – von außen wahrnehmbare – Symptome, die auch von dem Beziehungspartner bemerkt werden können sind beispielsweise:
Ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen abrupt aus dem Leben des anderen verschwinden und jeglichen Kontakt vermeiden, wird Ghosting genannt. Es handelt sich hierbei wohl um das radikalste in Erscheinung tretende Symptom von Bindungsangst. Bindungsangst oder gar Bindungsphobie kann eine Beziehung dauerhaft belasten - und nicht immer tritt sie zeitnah und für die Beteiligten offensichtlich zutage. Nicht selten sind Bindungsängste unbewusst und werden deswegen auch nicht als Ursache von Beziehungsproblemen erkannt. Eine Angst vor Beziehung und Bindung kann weit zurück liegende Ursachen haben, die nicht in der Abrufbaren Erinnerung verankert sind. Häufig können sich Betroffene dann selbst nicht erklären, warum sie sich vom Partner eingeengt fühlen und einfach nur "flüchten" wollen.
Die erste mögliche Folge von einem gestörten Verhältnis zu Bindungen ist, das Menschen sich grundsätzlich zurückziehen und die Aufnahme von Kontakt zu potenziell interessanten Beziehungspartnern vermeiden. Dadurch entsteht nicht selten Isolation für die Betroffenen, da der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der selbstgewählte Rückzug zu groß ist. Viele Betroffene leiden deshalb unter Einsamkeit. In einer Beziehung selbst ist eine Bindungsangst nicht einfach zu bewältigen. Wenn die Angst so geartet ist, dass eine Person andauernd aus der Beziehung fliehen möchte beziehungsweise sich eingeengt fühlt und dann das auf den Partner oder die Partnerin projiziert, entsteht nicht selten eine für beide Parteien ungünstige Spirale. Diese negative Spirale fordert besonders deshalb so heraus, weil der Partner der von der Bindungsangst des anderen betroffen ist, in aller Regel anfängt dieses Verhalten unbewusst herauszufordern, um es vorhersehbar zu machen. Das Phänomen Ghosting richtet bei Betroffenen nicht selten einen großen psychologischen Schaden an und führt mindestens zu einem Trauma. Daraus entwickeln die einst von der Bindungsangst des Partners Betroffenen ihrerseits eine Bindungsstörung. Beim Ghosting kappen die Handelnden jede Verbindung zu der betroffenen Person auf unbestimmte Zeit, in sehr schweren Fällen auch für immer. Sie werden zu einem Phantom und verweigern gewissermaßen die Existenz des anderen beziehungsweise blenden diese aus. Auch für diejenigen, die plötzlich aus dem Leben des Partners verschwinden „müssen“, ist es sehr schlimm. Meistens plagt sie ein unendlich schlechtes Gewissen und eine große Verzweiflung über sich selbst. Meistens konnten sie einem gefühlten oder auch realen Druck nicht standhalten und sahen die Flucht vor dem Partner als letzten Ausweg beziehungsweise waren trotz „guten Willens“ schlicht und einfach nicht in der Lage, anders zu reagieren. Eine weitere mögliche Folge von Bindungsstörungen kann natürlich eine Trennung im Sinne eines Scheiterns der eigentlich gewünschten Beziehung sein. Versagensgefühle können daraus folgen. Diese begünstigen wiederum beispielsweise das Auftreten von einer Depression. Manchmal harrt allerdings jemand mit Bindungsstörung einfach in einer für die Person unglücklichen Beziehung aus. Auch das kann eine Folge von Bindungsangst symbolisieren.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten eine Bindungsangst zu bearbeiten und in weiterer Folge auch auf lange Sicht teilweise zu bewältigen. Am Anfang dieser Bewältigung steht immer die Vergegenwärtigung des eigentlichen Problems. Erst ein Annehmen der Bindungsangst als eine im besten Fall keiner persönlichen Wertung unterliegenden Tatsache kann eine Grundlage für eine Veränderung schaffen. Dafür ist eine offene Kommunikation und die Reduzierung von falschen Erwartungen zwischen den Beziehungspartnern von erheblicher Bedeutung. Wenn das Urvertrauen gestört ist, ist meist eine lange Zeit vonnöten, bis eine deutlich sichtbare Verbesserung eintritt. Die Beziehungspartner sollten allerdings nicht der Illusion verfallen, das eine völlige Wiederherstellung des Urvertrauens möglich ist. Natürlich kann auch eine Therapie mit dem Schwerpunkt der Bindungsproblematik in Anspruch genommen werden. Diese hat immer den Vorteil, dass das Paar im Lernprozess eines gesunden Umgangs miteinander Begleitung, Beratung und Unterstützung erfährt. Bei einem „verharren" in ungünstigen Beziehungen aus der Angst heraus verlassen zu werden besteht allerdings ein einseitiger Handlungsbedarf. In diesem speziellen Fall von Bindungsstörung ist eine Trennung auch ein möglicher Umgang. In vielen anderen Fällen ist es jedoch durchaus realistisch, trotzdem eine stabile und bereichernde Beziehung zu führen und die Symptome der Bindungsangst abzuschwächen sowie einen dauerhaften und gesunden Umgang mit den Ursachen und Auslösern zu finden.
Es gibt einige Unterschiede bei der Auswirkung einer Bindungsstörung auf Frauen und Männer. Dies liegt aller Wahrscheinlichkeit nach an Sozialisierung und an anerzogenen weiblichen oder männlichen Verhaltensmerkmalen. Psychologen gehen allerdings davon aus, dass die Männer weitaus häufiger von Bindungsangst betroffen sind als Frauen. Das liegt natürlich vor allem am Frauenbild an sich, das sehr in der Mutter-Kind-Beziehung implementiert wurde.
Bei Männern kristallisiert sich grundsätzlich eher der Trend heraus, das sie andere Prioritäten vorschieben oder es öfter mit der Treue nicht so genau nehmen, meist um sich selbst ihre persönliche Freiheit zu beweisen. Sie machen sich nicht selten durch unzuverlässiges Handeln absichtlich weniger greifbar für ihre Partner. Auch ist es eher eine männliche Folge von Bindungsangst, Beziehungen einfach durch ein plötzliches Verschwinden zu beenden.
Bei Frauen kann es vermehrt dazu kommen, dass sie Beziehung eingehen, die nicht erfolgversprechend sind. Dies kann sich beispielsweise in wiederholten Liebschaften mit verheirateten Männern äußern oder in einer fortwährenden Rückkehr zu einem Partner, der die Partnerin seelisch oder körperlich misshandelt. Ebenso ist es möglich, dass Frauen in „einfach“ für sie ungünstigen und nicht glücklich verlaufenden Beziehungen verharren und eine große Angst entwickeln, verlassen zu werden. Diese Angst dominiert dann über ihre Entscheidung, lieber diese Beziehung behalten zu wollen als wieder allein (und damit verlassen) zu sein. Die Frauen sind abhängig von der Wertschätzung des Partners und heben diesen zuungunsten ihres eigenen Selbstwertes und meistens gegen die reale Situation auf ein für sie unerreichbares Podest.
Viele Menschen haben große Angst, feste Bindungen einzugehen beziehungsweise fühlen sich in ihren Partnerschaften nicht besonders sicher. Es ist traurig, dass viele der unter der sogenannten Bindungsangst Leidenden sich aus Angst vor Verletzung oder Versagen lieber für ein Leben allein entscheiden, obwohl sie sich oft sehr nach partnerschaftlicher Nähe sehnen.Es ist zwar so, dass Bindungsstörungen in den meisten Fällen auf sehr tief gehende Erfahrungen in Bezug auf das Verhältnis von Mutter und Kind zurückgehen und deshalb auch nur schwer zu bearbeiten sind, aber es ist nicht unmöglich. Zumindest ein besserer Umgang mit den Symptomen einer Bindungsangst ist erlernbar. Mit dieser Verbesserung steigt auch die Chance auf eine stabile Bindung deutlich. Im Fall einer Bindungsangst brauchen beide Partner zweifelsohne neue und hilfreiche Strategien des Umgangs miteinander. Auf der einen Seite braucht es Raum, auf der anderen Seite Verlässlichkeit. Auf beiden Seiten braucht es Verständnis, Nachsicht und Geduld.
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